Mehr als eine Million Menschen gingen spontan auf die Straße, mindestens 600 Betriebe traten in den Streik. In zahlreichen Städten, besonders im Süden und Osten der DDR, stürmten Demonstranten die lokalen Machtzentralen. Innerhalb weniger Stunden wurden insgesamt 140 Partei- oder Verwaltungsobjekte besetzt und aus einem Dutzend Gefängnissen fast 1400 Häftlinge befreit. Hätte die sowjetische Führung nicht den Ausnahmezustand verhängt und den Aufstand mit 16 Divisionen ihrer in Deutschland stationierten Truppen niederschlagen lassen, wäre die SED schon 1953 gestürzt worden.“
Was als Arbeiteraufstand begann, wurde zum Volksaufstand und zum Kampf um Demokratie und Freiheit. In vielen Orten der DDR hatte die SED am 17. Juni die Macht für Stunden verloren. Doch als die sowjetischen Panzer rollten, war der Aufstand zum Scheitern bestimmt. Das war übrigens der Unterschied zu 1989. Gorbatschow wollte das Sowjetsystem nicht abschaffen (sondern reformieren). Seine historische Leistung war, dass er keine Gewalt einsetzte, um dessen Untergang zu verhindern.
Selbstredend wurde in der DDR der Aufstand kleingeredet und als von außen initiierter faschistischer Aufstand dargestellt. Viele Intellektuelle leisteten dazu ihren Beitrag. Als Beispiel sei Bert Brecht erwähnt. Zynisch erklärte er in Solidaritätsadressen an die SED-Führung und sowjetische Funktionäre seine „Verbundenheit mit der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands“ und fabulierte: „Organisierte faschistische Elemente versuchten, diese Unzufriedenheit für ihre blutigen Zwecke zu missbrauchen.“. Bei dieser Haltung war es keine Überraschung, dass er 1955 den „Stalin-Friedenspreis“ annahm. Die Unzufriedenheit in der DDR führte zur „Abstimmung mit Füßen“. Hunderttausende gingen in den Westen. Um die Massenflucht zu stoppen, ließ das SED-Regime später die Mauer bauen und an der Grenze Flüchtlinge erschießen.
In Westdeutschland wurde der 17. Juni zum Nationalfeiertag gemacht. Doch im Lauf der Jahre verblasste die Erinnerung. Der Wunsch auf die Wiedervereinigung wurde für viele zur „Lebenslüge“ der Bundesrepublik. Die – an und für sich richtige – Entspannungspolitik von Brandt und Scheel ließ viele westliche Politiker jegliche Opposition in der DDR als lästige Störung der Beziehung zur DDR-Spitze werden. Dies galt sowohl für den 17. Juni als für auch die damals aktuelle DDR-Opposition. Die westdeutschen Bundesländer ließen die Untaten des SED-Regimes in der „Zentralen Erfassungsstelle“ in Salzgitter dokumentieren. Ende der 80-er Jahre hielten die SPD-geführten Bundesländer die Erfassungsstelle für „unzeitgemäß“ und stellten die Zahlungen ein. Die Grünen bezeichneten das Gedenken an den 17. Juni als ein Relikt des Kalten Krieges und boykottierten nach ihrem Einzug in den Bundestag die jährlichen Gedenkstunden. Später hielten sie enge Verbindung zur DDR-Opposition. Jemand wie Hans-Dietrich Genscher, aus Halle stammend, wurde zur Ausnahme.
Nur am Rande sei die Linkspartei erwähnt, die lt. dem Eid ihres früheren Schatzmeisters „rechtsidentisch“ mit der SED ist. Sie entblödete sich nicht, Hans Modrow, der 16 Jahre lokaler SED-Diktator in Dresden war, zum Ehrenvorsitzenden zu wählen. Es war nur konsequent im Hinblick auf ihren wahren Charakter.
Die Geisteshaltung, die den 17. Juni weichspülte und den Freiheitsgedanken kleinredete, ähnelte der Geisteshaltung, die Putin schönzeichnet. Die Folgen kennen wir.
Henning Wagner
FDP Strohgäu